Nachklapp
In den letzten Studienjahren bin ich häufig zu einem interdisziplinären Inzest mit Geisteswissenschaftlern gezwungen gewesen. In einer Elitesommerakademie am Ägäischen Meer musste ich mit einigen anderen Opfern der Utopie der Interdisziplinarität die großen Fragen der Globalisierung knacken. Mit dem Meer in Riechweite sollte ich dem intellektuellen Treiben einiger Vertreter der interkulturellen Kommunikation zum Thema Stereotypen lauschen. Die Aufgabe von Stereotypen sei die Komplexitätsreduktion, hieß es. Sie sollen eine kognitive Orientierung in der bösen bösen Umwelt ermöglichen und -- zitiere -- vor einem negativen Selbstbild schützen sowie Schuldgefühle und innerpsychische Konflikte oder auch Selbstkritik abwehren, indem sie Andersartiges tendenziell diskriminieren. Es handelt sich also um ein gemeines Instrument der menschlichen Psyche, welches das arme Säugetier, mit einem viel zu großen Gehirn und viel zu langen Windungen in dem selbigen, vor einem Nervenzusammenbruch aufgrund der ständigen Abwägungen pro vs. contra schützen soll. Bei den weniger reichlich beschenkten Mitmenschen führt es leider allzu oft zu einer ausgewachsenen Xenophobie.
Die Mehrheit der Menschen beschränkt sich häufig auf "harmlose" Länderstereotypen: Amis sind dick und gierig, Briten arrogant und tendieren zum Alkoholismus, Polen klauen und so weiter und so fort. Je weiter ein Land vom eigenen kulturellen Kreis entfernt liegt, desto eher werden gewisse geografisch-kulturelle Konglomerate gebildet: Die Araber, die Afrikaner oder die Latinos zum Beispiel. Ich als Litauer werde in Deutschland als ein eher unscheinbarer "Homo Postsovieticus" aus dem geografischen Aggregat Baltikum wahrgenommen, mit starken Tendenzen zum allgemeinen Stereotyp des Osteuropäers -- eher negativ, als positiv besetzt. In diesem Falle muss man das mit der eigenen Individualität ausgleichen, die Umwelt eines Besseren belehren, die Geschichten vom Ruhm der vergangenen Jahrhunderte des großen Litauens erzählen, die Schönheit und Einzigartigkeit der litauischen Seenlandschaft preisen etc. Also, einfach scheiß anstrengend...
Die Finnen haben es da leichter. Ein blondes Volk aus der westlichen Hemisphäre, das immer noch eine gewisse Exotik behalten hat. Außerdem haben sie ihre Saunen, Nokia, Rentiere und Rennfahrer. Zwar war der Eurovisionserfolg der finnischer Hardmetal-Band Lordi bei dem sonst ziemlich spießigen Publikum solcher Formate wohl mehr ihren kitschigen Zombiekostümen und der offensichtlichen Bedrohung durch ihre überdimensionalen Pappäxte geschuldet, aber das Image der Finnen hat darunter nicht etwa gelitten, sondern wurde dadurch gehörig aufgepeppt. In Sachen Musik ist Finnland eh eine kleine Großmacht. Vor allem jenseits des Mainstreams machen die Bands wie Eläkeläiset oder Leningrad Cowboys der finnischen Musikszene alle Ehre. Am entgegengesetzten Pol des musikalischen Spektrums steht die finnische Elektromusik, die wohl zur innovativsten Elektromusik Europas zählt.
Einige Vertreter dieser Szene hat cultureclubbing Anfang Februar aus Helsinki nach München gelockt. Eero Johannes und DJ Wiljam Basso wurden zusammen mit zwei finnischen Schriftstellern ins Literaturhaus bestellt, um eine Stichprobe der finnischen Musik- und Literaturszene zu präsentieren. Das Bubengesicht Eero hat zunächst vor dem gefüllten Saal mit gefühlten 100 Prozent Literaturfans einige Musikstücke gespielt. Seine Elektromusik begleitete er mit Videoinstallationen und einigen eigenen bizarr langsamen Tanzeinlagen. Auf der Leinwand vorbei rauschende, neonfarbene Diamanten und blinkende Bäume sowie die eindringlichen Hinweise Eeros auf die theoretisch gegebene Möglichkeit zu Tanzen bewirkten jedoch nicht viel, sondern wurden stattdessen als finnischer Humor aufgefasst.
Gleich anschließend startete die literarische Runde mit Elina Hirvonen und Tuomas Kyrö. Elina Hirvonen las aus ihrem Debütroman "Erinnere dich" zunächst auf Finnisch, um den weniger Ugrofinnismus-affinen Gästen den Klang dieser Sprache nahe zu bringen. Die Schauspielerin Alexandra Helmig las anschließend aus der deutschen Übersetzung. Im Buch beschreibt die Autorin in Rückblenden die Kindheitserlebnisse einer jungen Frau, deren Bruder an einer Psychose leidet. Der Alltag dieser Frau ist in der Handlung zusätzlich in den historischen Hintergrund des 11. Septembers eingebettet. Doch nicht nur dadurch lässt sich erklären, dass der Roman bereits in weiteren zehn Ländern veröffentlicht wurde. Elina Hirvonens Sprache ist nicht ausschweifend, sondern direkt, menschlich, ja schlicht -- ein bisschen wie auch die Autorin selbst. Elina ist eine zierliche Frau von Mitte dreißig. Sie ist eine finnische Kosmopolitin -- ihr Mann ist Amerikaner, sie lebte jahrelang in Sambia. Während sie aus ihrem Buch vorliest oder der deutschen Übersetzung ihres Romans lauscht, streichelt sie leicht ihren Bauch. Sie wird im Sommer ein Kind bekommen. Es fällt mir leicht, mit ihr ein gemeinsames Gesprächsthema zu finden: Wir unterhalten uns nach der Lesung eine Weile über die Geburt und die Vor- und Nachteile der Betäubung durch Lachgas oder Epiduralanästhesie, die üblichen Frauengespräche eben. Toi, toi, toi, Elina!
Tuomas Kyrö ist dagegen ein in Finnland bereits sehr bekannter Schriftsteller. In seinen Kurzbiographien wird er einstimmig als der finnische Kultautor beschrieben. Als ich ihn darauf anspreche, behauptet er, er sei gar kein Über-Schriftsteller. Er tue nur das, was er am besten kann. Und er kann eben nichts anderes als schreiben. Wenn er kein Schriftsteller wäre, dann wäre er wahrscheinlich ein Skateboarder. Dafür fehle es ihm allerdings an Talent. Ich frage ihn, was man sein oder haben muss, um einen richtig guten Roman zu schreiben. Fleiß und Lebenserfahrung, antwortet er nach einigen Augenblicken. Hätte er seine Erfahrungen als fast krimineller Jugendlicher in Helsinki nicht gemacht, hätte ihn sein Leben nicht vor die Probleme und Krisen gestellt, die er erlebt und gemeistert hat, so wäre er vielleicht nicht in der Lage gewesen, das Innenleben seine Figuren zu erfinden. Tuomas brachte sein aktuelles Buch "700 Gramm" mit nach München, aus dem er zunächst selbst vorlas. Es ist sein erster Sportroman, der anhand der Figur eines Weitspringers die zeitgenössische Gesellschaft Finnlands porträtiert. Im Anschluss an die Lesung befragten die Moderatoren Meike Frese und Maximilian Murmann die Autoren. Dabei verunglimpfte Tuomas die Münchner Kälte und witzelte, er könne keine schlechten Bücher schreiben. Außerdem hätten nicht Brecht oder Goethe auf ihn den größten Eindruck gemacht, sondern Modern Talking.
Nach dem Ende der Lesung zog der Zug der Zuhörer des finnischen Kulturexports durch die Münchner Altstadt weiter. Geleitet von einer finnischen Blaukreuzflagge landeten die Besucher nach einer kurzen Kontrolle durch das omnipräsente Sicherheitskonferenz-Polizeiaufgebot in der Roten Sonne, die der Gastgeber des restlichen Abends war. Dort sollte Radiomacher und DJ Wiljam Basso aus Helsinki Eero Johannes musikalisch ablösen. Aber kein Wunder -- bei sieben Projektionsflächen war auch Eero nicht zu bremsen und so heizten die beiden DJs gemeinsam, nicht nur den Finnland- begeisterten Clubbesuchern, mit elektronischen Basslines und Visuals kräftig ein. Während Elina Hirvonen ihren zukünftigen Nachwuchs im Takt schaukelte und Tuomas nach epischen Erzählungen von Marion Bösker über die hiesige Wurstkultur überlegte, wie er seine Rückreise verschieben könnte, um noch in den Genuss von Weißwürsten des "Metzger Bauch" zu kommen, wurde gefeiert, getanzt und gelacht fast bis die Sonne wieder aufging.
Ob der Blick in die finnische Seele an diesem Abend gelungen ist? Vielleicht. Vielleicht nicht. Ein Vorurteil konnte aber sicherlich gebrochen werden: Die Nordmenschen sind gar nicht so verschlossen und brauchen keinen Wodka, um ihr Herz zu öffnen. Ehrliches Interesse reicht vollkommen aus. So wie bei jedem anderem. Abstempeln ist leicht. Sich einlassen ist aber viel spannender.
Darius Černiauskas